Pforzheim 23. Februar 2011

Vergangenheit bewältigen - Zukunft gestalten

In Zukunft soll der Pforzheimer Gedenktag auch in die Zukunft weisen

Niemand hätte im Januar 2010 daran gedacht oder gar geglaubt, dass in der kommunalen Arbeitsgruppe zur Gestaltung des 23. Februar die gedankliche Offensive des Nagelkreuzzentrums Pforzheim zur Neuorientierung des Pforzheimer Gedenktags  hin zu einer Einbindung der nachwachsenden Generationen bei allen beteiligten Gruppierungen auf so fruchtbaren Boden fallen würde. Ein Jahr lang haben Haupt- und Ehrenamtliche der Stadt, der Kirchen, der Kulturschaffenden und der Jugendverbände an diesem neuen Konzept gearbeitet und Erstaunliches auf die Beine gestellt.

Für das Nagelkreuzzentrum Pforzheim hat sich die Arbeit auf zwei Schwerpunkte konzentriert: die Teilnahme mit den Konfirmandinnen und Konfirmanden der Stadtkirche am Riesenpuzzle auf dem Rathausplatz und die Gestaltung der Weitergabefeier des ökumenischen Wandernagelkreuzes an die katholische Seelsorgeeinheit Liebfrauen mit Konfirmandinnen und Konfirmanden der Weststadt, von Huchenfeld und der Stadtkirchengemeinde in Anwesenheit von Benjamin Wynne und Oberbürgermeister Gert Hager. Weit über zweihundert Bürgerinnen und Bürger haben die in sechs Sprachen gelesene Versöhnungslitanei von Coventry mitgebetet und der Übergabe der Großen Versöhnungskerze beigewohnt. Zahlreiche Pressestimmen haben sich dazu zu Wort gemeldet.

 

Gesenkte Köpfe (Mike Bartel, Pforzheimer Kurier)

Es ist der 23. Februar. Die Köpfe sind gesenkt. Menschen verharren. Jeder kennt diese Szenen. Auf dem Hauptfriedhof verneigen sich die Lebenden und Überlebende. Am Tag, als Pforzheim zerstört wurde, gedenken sie der Toten. Seit 66 Jahren ist das so. Doch diesmal war etwas anders. Die Köpfe gesenkt, die Blicke zu Boden gerichtet - so standen die Menschen gestern auf dem Marktplatz. Ja, in gewisser Weise verneigten auch sie sich dort vor den Toten. Obwohl zu ihren Füßen keine Gräber lagen, sondern bemalte und beklebte Puzzleteile. Bunt und dennoch irgendwie bedrückend. Ein Mosaik, das passt. 66 Jahre danach erinnert es an die Schrecken des Krieges. Und mahnt zugleich, sich eines Besseren zu besinnen. Den Urhebern und Mitwirkenden dieser Aktion gebührt das große Verdienst, den 23. Februar in die Innenstadt geholt zu haben. Der Hauptfriedhof ist nicht mehr der einzige Ort des Gedenkens. Zusätzlich zu den vielen anderen anrührenden Veranstaltungen im Umfeld des 23. Februar verleiht dieses hingebungsvoll gestaltete Puzzlemosaik dem Pforzheimer Gedenktag eine neue Lebendigkeit. Noch bis Freitag wird man es sehen. Menschen verharren. Langsam heben sie die Köpfe. Sie richten sich wieder auf und gehen weiter. Den Blick nach vorne gerichtet.

EIN BEGEHBARES PUZZLE zeugt auf dem Marktplatz von der zukunftsorientierten Auseinandersetzung in Pforzheim mit dem Schrecken und Leid des 23. Februar 1945

Leuchtender Appell gegen Krieg und Gewalt  (Edith Kopf, Pforzheimer Kurier)

Puzzle als Bild gewordene Auseinandersetzung mit der Zerstörung Pforzheims am 23. Februar 1945

Das Herz ist rot, das Feuer nach einer Explosion leuchtet orange und die Friedenstaube steigt idealerweise in einen strahlend blauen Himmel auf, um die Botschaft der Versöhnung zu verkünden. Allein diese drei Symbole sorgen dafür, dass das Mosaik zum 23. Februar auf dem Marktplatz in Pforzheimzu einem farbintensiven Ereignis geworden ist. Auf 166 Puzzleteilen haben Kindergarten- und Jugendgruppen, Schulklassen und Gebetskreise, Familien und Einzelne auf das größte Unglück, das über Pforzheim hereinbrach, reagiert. Sie alle sorgen auf diese Weise auch dafür, dass 66 Jahre nach der Bombardierung das Grau in Grau der Trauer zu einem bunt leuchtenden Appell gegen Gewalt und Krieg geworden ist.

Es war ein spannender Prozess, der zu dem großen Bild auf der Freifläche beim Rathaus geführt hat. Niemand wusste so genau, ob die Idee ankommen würde, die sich ein Arbeitskreis ausgedacht hat, um den Pforzheimer Nachwuchs an den Gedenktag heran zu führen. Es ging dabei auch darum, Generationen einen Zugang zu vermitteln, die nicht mehr über persönliche Geschichten eine Verbindung zu dem Leid herstellen können, das da über die Stadt hereingebrochen ist.

Aber sie können es erfassen über die Auseinandersetzung mit dieser für die Stadt so traumatischen Geschichte, erweitert durch das Themenfeld Gewalt und Gegengewalt. Quadratmeter für Quadratmeter lässt sich dies nachlesen auf den Tafeln, die auf dem Marktplatz noch bis einschließlich morgen ausgebreitet sind.

"Vergangenheit bewältigen - Zukunft gestalten" schlägt das Nagelkreuzzentrum die Verbindungslinie vom 23. Februar 1945 zum 23. Februar 2011. Das Zentrum legte gestern als erstes ein quadratisches Feld aus 16 Puzzlestücken zusammen und markierte so die Mitte der vielschichtigen Gedenktafel auf dem Marktplatz.

RUND 160 EINZELTEILE zählt das Puzzle auf dem Pforzheimer Marktplatz. Das Zentrum bilden die 16 Quadratmeter der Konfirmandinnen und Konfirmanden der Stadtkirche

Ein zweisprachiges "Vater Vergib" betont die besondere Verbindung, die durch die Bombardierung Pforzheims kurz vor Kriegsende nach England - insbesondere das im November 1940 durch deutsche Bomber zerstörte Coventry entstand. Ihre besondere Rolle damals wie heute unterstreichen Behinderte vom Sperlingshof mit ihrem Beitrag zum Puzzle. "Ohne wenn und aber! Dabeisein immer" steht dort zu lesen. Sichtbar wird dieses Anliegen durch einen Kreis von Handschuhen als Symbol von "Hand in Hand".

Wachs gewordene Tränen über den Verlust von schätzungsweise 17 000 Menschen sind auf der Westseite des Werks zu finden: Das zerstörte Pforzheim ist dort zu sehen, dargestellt aus unzähligen Tropfenkerzen. Was gebieben ist bis heute sind hier eine Brille, dort ein angesengtes Plüschtier, doch das meiste ist verbrannt wie ein Klassenbuch von 1944, das gleichfalls in die Puzzle-Collage eingearbeitet wurde.

"Wie kann ich ruhiger werden. So viele hab ich in einen verzweifelten Tod gehen sehen", wird wenige Meter weiter Anne Frank zitiert. Ein Satz der Trauer, der weiter reicht als das Gedenken an Pforzheim, geschrieben in rot auf grauem Grund.

 

Gedanken als Mosaik (pm, Pforzheimer Zeitung)

Zahlreiche Gruppen gestalten riesiges Puzzle gegen Krieg und Gewalt auf dem Marktplatz

Bei strahlendem Sonnenschein haben sich gestern viele Pforzheimer auf dem Marktplatz versammelt, um sich an der Mosaikaktion zum Gedenktag am 23. Februar zu beteiligen. So entstand ein Puzzle aus über 160 Teilen, das ein Ensemble von Gedanken und Emotionen zu den Themen Krieg, Gewalt, Zivilcourage und Toleranz darstellt. "Auf diesem zentralen Platz gedenken wir der Opfer des 23. Februar in einer Form, die nicht nur Erwachsene, sondern auch die heranwachsende Geberation anspricht. Und genau darum muss es uns gehen", sagte Oberbürgermeister Gert Hager. "Wir müssen die Lehren aus dem 23. Februar ziehen. Und das hier ist eine wunderbare Möglichkeit des künstlerischen Ausdrucks", so der Ratrhauschef weiter. Hager dankte allen Beteiligten, den Initiatoren, zu denen auch der Künstler René Dantes zählt, dem Nagelkreuzzentrum für wichtige Anstöße in eine neue, zukunftsorientierte Richtung, sowie den Erzieherinnen und Lehrern.

OBERBÜRGEMEISTER GERT HAGER bezeichnete das Riesenpuzzle auf dem Marktplatz als zukunftsweisende Möglichkeit, sich mit dem Pforzheimer Gedenktag auseinander zu setzen.

 

Pforzheim "Pforte des Friedens" (Thomas Frei, Pforzheimer Zeitung)

Übergabe des Wandernagelkreuzes an die katholische Seelsorgeeinheit Liebfrauen

Das Wandernagelkreuz des Nagelkreuzzentrums an der Stadtkirche ist gestern nach der Gedenkfeier zum 23. Februar 1945 auf dem Hauptfriedhof an die katholische Seelsorgeeinheit Liebfrauen weitergegeben worden. Ein Jahr lang war es bei den Weststadtgemeinden, zuletzt zwei Wochen im Neuen Rathaus. Das Nagelkreuz von Coventry ist ein Symbol dafür, dass die Idee der völkerweiten Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg in die Welt hinausgetragen wird.

Konfirmanden mit dem Wandernagelkreuz und Roland Ganninger vom Nagelkreuzzentrum Pforzheim auf dem Weg zum Gingkobaum.

Konfirmanden aus der Weststadt, aus Huchenfeld und der Stadtkirche führten die Prozession von der Großgrabstätte zum neu gestalteten "Garten des Gedenkens" beim jüdischen Friedhof an, auf dem ein von John Wynne (einem Motor des Versöhnungsgedankens) im Jahr 1999 gestifteter Gingkobaum steht - als Zeichen der Hoffnung und der Versöhnung, haben solche Bäume doch den Abwurf der Atombomben in Japan (1945) überlebt. Für seinen 90jährigen Vater nahm dessen Sohn Benjamin die "Große Versöhnungskerze der Stadtkirche" in Empfang.

In seiner Antwort auf die "Große Versöhnungskerze" bezeichnete Benjamin Wynn Pforzheim als eine "Pforte zum Frieden".

Pfarrer Jörg Geissler (Huchenfeld) betonte in seiner Ansprache, dass der Gedanke der Versöhnung die einzige Antwort auf die Gräuel des Krieges sein kann.Er wünscht sich daher auch, dass die drei Nagelkreuzstädte Dresden, Pforzheim und Würzburg, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs dasselbe Schicksal erlitten hatten, sich künftig enger zusammenschließen. Wobei die Jugend einen wichtigen Part übernehmen müsse, um den Versöhnungsgedanken weiterhin in alle Völker weiterzutragen.

Konfirmanden der Weststadt, aus Huchenfeld und der Stadtkirchengemeinde beteten die Versöhnungslitanei von Coventry in sechs verschiedenen Sprachen.

Als "Pforte zum Frieden" bezeichnete Benjamin Wynne die Stadt Pforzheim. Das Nagelkreuz bedeutet für ihn den Schlüssel zum Tor der Freundschaft, zu unserer Verantwortung für eine bessere Zukunft.

In Anwesenheit von OB Hager erhielt Pfarrer Lichtenberger von der Seelsorgeeinheit Liebfrauen das Wandernagelkreuz aus den Händen von Dekan Dr. Stössel und Pfarrerin Martina Walter (beide Weststadt).

 

Versöhnung für die Zukunft (Mike Bartel, Pforzheimer Kurier)

Nagelkreuzzentrum fördert die Einbeziehung junger Menschen

Weg von der rückwärts gewandten Fixierung. Hin zu einer auf die Zukunft ausgerichteten Vergangenheitsbewältigung. Mit diesem Anspruch und unter der bewussten Einbeziehung junger Menschen hat sich gestern das Nagelkreuzzentrum Pforzheim erstmals mit einer eigenen kleinen Feier zum 23. Februar auf dem Hauptfriedhof präsentiert.

Im Anschluss an die offizielle Gedenkfeier trugen 18 Konfirmanden verschiedener Pforzheimer Gemeinden das Wandernagelkreuz zu jenem Gingkobaum, den der englische Kriegspilot John Wynne als Zeichen der Versöhung hatte pflanzen lassen. Für dessen Sohn Benjamin Wynne gab es gestern die "Große Versöhnungskerze", die ihm Roland Ganninger vom Nagelkreuzzentrum überreichte.

Pfarrer Jörg Geißler aus Huchenfeld erinnerte in seiner Ansprache daran, dass Versöhnung die einzig mögliche Antwort auf Krieg sei. Zum Abschluss beteten die Jugendlichen die Versöhnungslitanei von Coventry in sechs verschiedenen Sprachen.

 

"Damals war es Friedrich"

Lesung nach dem Mahnläuten in der Rastkapelle des Stadtkirchenturms

Die Atmosphäre ist bedrückend nach dem Mahnläuten aller Pforzheimer Kirchen, es ist kalt und dunkel. Draußen auf dem Gras des Stadtkirchenvorplatzes sitzt ein Konfirmand und verkörpert den Nazi Resch, der verliebten Blickes sein Ein und Alles, seinen Gartenzwerg Polykarp betrachtet. Dieser Gartenzwerg ist gewissermaßen das Leitmotiv, mit dem Jugendbuchautor Hans-Peter Richter durch die beklemmende Geschichte der zwei miteinander aufwachsenden Kinder und Jugendlichen führt.

Der Nazi-Hausbesitzer Resch und sein geliebter Gartenzwerg Polykarp

Drinnen liest Roland Ganninger ausgewählte Kapitel, die den Weg Friedrichs, des Sohns jüdischer Eltern, dem auch der in Ich-Form schreibende Autor als Sohn eines Arbeitslosen und späteren Parteigenossen immer weniger beistehen kann, erzählen. Zum Schluss kann Friedrich vor den Nazi-Schergen, die seinen Vater abtransportieren, fliehen, kommt aber zurück, um ein Foto zu holen, weil er sich an seine Eltern nicht mehr erinnern kann. Dabei wird er von einem Luftangriff überrascht. Herr Resch verweigert ihm als Luftschutzwart den Zutritt zum Luftschutzkeller. Nach dem Angriff gilt Herrn Reschs erster Gedanke seinem Gartenzwerg, dem nur ein Stückchen seiner Zipfelmütze fehlt. Für Friedrich, der tot in einer Hausecke kauert, hat er nur den Kommentar: "Sein Glück, dass er so umgekommen ist".

Bedrückende Stimung in der Rastkapelle des Stadtkirchenturm am Abend des 23. Februar